Rettender Tanz
„Schau mal, Heinz, was ist das denn?“
Der Heizer lehnte sich auf die Schulter von Lokführer Gunnar und starrte aus dem verrußten Fenster der Lokomotive. Der Nachtzug hatte gerade den Bahnhof von Verden verlassen. Die Passagiere würden gleich geweckt werden, denn an ihrem nächsten Halt in Bremen endete die Fahrt.
„Das sieht ja aus, als würde da jemand...“
„...auf den Schienen tanzen, genau.“ Entschieden betätigte Gunnar die Bremse, Der Zug wurde langsamer, kam aber nicht schnell genug zum Stehen. Voller Entsetzen beobachteten Heinz und Gunnar die Gestalt, die weiter im gleichbleibenden Abstand vor ihrem Zug tanzte, ohne sich vom Fahrtlärm, dem Tuten und Klingeln der sich nähernden Gefahr aus der Ruhe bringen zu lassen.
Jeden Moment musste es zur Katastrophe kommen. Auch wenn die alte Dampflok nicht mehr die Schnellste war, den Zusammenprall konnte die Gestalt nicht überleben. Im Licht der Scheinwerfer erkannten die beiden Männer im Führerhaus jetzt, dass es sich um eine Frau handelte, die sich in einem ganz unschicklichen Hemdchen und mit bloßen Füßen hin und her bewegte. Fast sah es aus, als schwebte sie einige Zentimeter über dem Boden, aber das musste ja eine optische Täuschung sein.
Doch der Aufprall blieb aus. Auf einmal war die Unbekannte verschwunden und im selben Moment kam der Zug endgültig zum Stillstand, nur wenige Meter vor der Gewölbebrücke, die hier die Aller und das angrenzend Überschwemmungsgebiet überspannte.
Gunnar sprang aus seiner Lok und versuchte, im Rauch des Zugs, in Dunkelheit und Nebel etwas zu erkennen, doch von der tanzenden Frau war nichts mehr zu sehen. Aus den Fenstern der Waggons ertönten die verärgerten Schreie von Passagieren, die durch die Notbremsung unsanft aus dem Schlaf gerissen worden waren. Ein Zugbegleiter lief aufgeregt auf Gunnar zu, was denn los sei.
„Ja hast du sie denn nicht gesehen, die verrückte Selbstmörderin, die die ganze Zeit vor dem Zug herumgetanzt ist?“
Nein, natürlich hatte Otto in einem der hinteren Wagen nichts davon mitbekommen und auch sonst hatte niemand etwas bemerkt.
Gunnar seufzte. Die Vorschriften besagten, dass er jetzt nachsehen musste, ob wirklich kein Mensch, egal ob tot oder lebendig, vor ihnen auf den Gleisen lag. Er holte die Öllampe aus dem Führerhaus der Lok und begann den Aufstieg auf die Gewölbebrücke. In einem großen Kreis schwenkte er die Lampe, eigentlich mehr der Form halber.
Doch was war das? Gunnar lief noch ein paar Schritte weiter und erstarrte vor Schreck. In der Mitte, dort wo das Wasser unter ihnen am tiefsten war, hatte jemand die Schienen zerstört. Eine beachtliche Lücke klaffte auf der einen Seite der Fahrspur. Nicht auszudenken, wenn er hier mit der üblichen Geschwindigkeit weitergefahren wäre. Der geheimnisvolle Saboteur, der seit Monaten Niedersachsen in Atem hielt, hatte wieder zugeschlagen und wie auch bei allen vorigen Malen war wie durch ein Wunder nichts passiert.
Er eilte zurück zu seinen Kollegen und erzählte ihnen die Geschichte. Während Otto die Passagiere darauf vorbereitete, dass sie wohl den Rest der Strecke würden laufen müssen, und sich ein weiterer Zugbegleiter auf zum nächsten Bauernhof machte, um Hilfe zu rufen, standen Heinz und Gunnar geschockt neben ihrer Lok.
„Glaubst du an Geister?“
Heinz schüttelte den Kopf.
„Bis heute nicht. Aber wie anders willst du dir die Erscheinung erklären, die genau zum richtigen Zeitpunkt auftauchte und wieder verschwand? Und was schreibst du jetzt in deinen Bericht, warum du gerade hier eine Notbremsung gemacht hast?“
Gunnar zuckte die Achseln. Ob er wohl vorher an die Berichte der anderen Lokführer kommen konnte, die auf so wundersame Weise vor einer Katastrophe bewahrt worden waren? In der Zeitung wollte er die Wahrheit im Zusammenhang mit seinem Namen jedenfalls nicht lesen.