Als ich vor fast zwei Jahren damit begann, diese Biografie zu schreiben, ahnte ich nicht, dass sich mein Leben ein Jahr später dramatisch ändern würde. Ich habe lange gebraucht, um diesen Teil der Biografie zu beginnen und werde ihn wohl auch in mehreren Etappen schreiben, aber es ist so wie es ist und gehört genau so hierher, wie alles andere, was ich in diesem Bereich veröffentlicht habe.
Das Unglück
Freitag der 13. September 2024
Es war irgendwie ein guter Tag. Die Schulung für den neuen Auftraggeber war fast vorbei und zum ersten Mal seit Schulungsbeginn war ich meiner sicher, die ziemlich heftige Prüfung in der nächsten Woche schaffen zu können. Der Schulungsstress war mir auf den Magen geschlagen und ich konnte kaum etwas essen, aber an diesem Abend hatte ich ein Gläschen mit Babybrei geschafft.
Gegen 20 Uhr ging ich in mein Schlafzimmer, um mich für die Nacht umzuziehen, einfach nur, weil es bequemer war als die Arbeitskleidung und weil ich es mochte, einfach nur ins Bett fallen zu können, wenn ich es wollte und nicht dann noch mit der Abendtoilette beginnen zu müssen. Zum Glück legte ich noch das Armband mit dem Hausnotrufknopf an.
Ich weiß nicht, wie ich auf die dämliche Idee kam. Eigentlich wusste ich doch, dass ich inzwischen viel zu unsicher auf den Beinen war, um mir die Hose im Stehen auszuziehen - geschweige denn die Gehhilfen dazu zu nutzen, die Hosenbeine nach unten zu schieben. Es kam, wie es kommen musste, auf einmal saß ich auf dem Boden. Nichts tat weh, ich hatte keine sichtbaren Verletzungen. Also musste ich nur noch hochkommen. Und das ging nicht mehr. Ich hatte nicht mehr die Kraft, mich umzudrehen, hinzuknien und mich irgendwie aufzurichten.
Nach mehreren vergeblichen Versuchen drückte ich den Notrufknopf und hörte vom Apparat im Wohnzimmer nebenan unverständliches Zeug. Verzweifelt schilderte ich verzweifelt meine Notlage. Es folgte mehr unverständliches aus der Ferne, sodass ich nicht wusste, was passieren würde. In Panik versuchte ich weiter, selbst hochzukommen, aber vergebens. Schließlich gelang es mir, auf dem Hintern um das Bett zu rutschen, dorthin, wo da Telefon auf dem Nachttisch stand.
Als ich es fast erreicht hatte kam meine Mutter herein, die zum Glück einen Schlüssel zu meiner Wohnung hatte. Der ASB hatte wohl versucht, den Pflegedienst zu schicken, aber die konnten niemanden abstellen, also hatten sie meine Mutter angerufen, die sich sofort kam. Nur aufhelfen konnte sie mir auch nicht. Sie klingelte bei den Nachbarn und Frau C. und ihr Freund kamen. Der Freund versuchte dann, mich hochzuheben und es gab einen Ruck und Schmerzen in der rechten Schulter, nur vom Boden war ich immer noch nicht weg.
Am Ende riefen wir dann doch die 112. Die Sanitäter hoben mich zum Sitzen auf mein Bett (tat zwar weh, aber es ging) und wollten mich dann ins Krankenhaus bringen. Krankenhaus? Wegen leichten Schmerzen in der Schulter? Und das am Abend vor meinem Geburtstag? Die würden mich vermutlich nach ewig langer Wartezeit röntgen, feststellen, dass nichts gebrochen war und dann wieder nach Hause schicken. Ich weigerte mich und nachdem ich es mit Gehhilfen ins Bad, auf das Klo und wieder zurück geschafft hatte, ließen sie mich tatsächlich zu Hause, nachdem ich unterschrieben hatte, dass das alleine auf meinen Wunsch geschah.
Meine Mutter ging auch und ich verbrachte eine ruhige, problemlose Nacht.
14. September 2024
Mein 58. Geburtstag. Ich wachte wie üblich gegen 5 Uhr auf und ging ins Wohnzimmer an meinen Computer. Den Morgen verbrachte ich in guter Stimmung. Die Schulter tat zwar weh, wenn ich die Gehhilfen benutzte, aber ich konnte sie voll belasten und war sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Am Telefon und in meinen Lieblingsforen erzählte ich von den Abenteuern des letzten Abends und freute mich, dass alles ohne Folgen ausgegangen war. Ohne es zu wissen machte ich zwischendrin die letzten Schritte auf meinen eigenen beiden Beinen.
Am Nachmittag kam meine Mutter und wir feierten den Geburtstag wie geplant. Nachdem ich tagelang kaum etwas hatte essen können verdrückte ich mit Hochgenuss ein Stück meiner Lieblingstorte. Der Tag endete unspektakulär und einfach nur schön. Ohne dass ich es ahnte lief der Countdown und ich verschlief ihn.
15. September 2024
Mein Schicksalstag. Wieder wachte ich gegen 5 Uhr auf und ging ins Wohnzimmer. Später würde ich auf meinem Computer Bildbearbeitungen finden, die ich in den nächsten Stunden gebastelt habe, ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Mit Genuss aß ich eine der Mozartkugeln, die ich zum Geburtstag bekommen hatte.
Kurz vor 9 war die Getränkeflasche im Wohnzimmer leer und ich wollte mir etwas zum Essen und Trinken aus der Küche holen. Weil ich wegen der Gehhilfen keine Flasche in der Hand tragen konnte, transportierte ich alles Nötige in einer Stofftasche, die ich an den Griff der Krücke hängte. Dieses Mal waren es eine Flasche mit SodaStream Getränk, eine Quarkspeise und ein Löffel. Nichts schweres. Ich hatte schon ganz anderes auf diese Weise transportiert, nur dieses Mal sollte es nicht gutgehen.
Ich stieg mit dem einen Bein über die Schwelle der Küchentür, wollte das Andere nachziehen und merkte, wie das erste Bein weg knickte. Wegen der lädierten Schulter konnte ich mich auch nicht mit den Gehhilfen auffangen. Langsam sank ich zu Boden, wobei ich immer noch versuchte, schlimmeres zu verhindern, aber vergebens. Schließlich landete ich auf etwas Hartem, das quer unter meinem Hintern lag. Ich zog es hervor und erkannte mein linkes Bein, das natürlich gebrochen war. Weh tat seltsamerweise gar nichts. Ich saß da und schrie einige Minuten nur "Nein, nein, nein". Dann drückte ich wieder einmal den Hausnotrufknopf. Der ASB versprach, einen Krankenwagen zu rufen und meine Mutter zu benachrichtigen.
Die Sanitäter kamen schnell und meine Mutter zum Glück noch schneller, sodass sie ihnen öffnen konnte. Für eine Diagnose war keine Röntgenaufnahme nötig, ein so verdrehtes Bein musste gebrochen sein. Irgendwie wurde ich auf eine Bergungsdecke gehoben und damit nach unten getragen. Meine Mutter packte noch das Nötigste (Handy mit Ladekabel, Unterwäsche und eine Strickjacke, seltsam, woran man in einem solchen Moment denkt) ein. Leider habe ich mich beim Abtransport nicht noch einmal nach der Wohnung, in der ich 17 Jahre lang gelebt hatte und meinen beiden Wellensittichen umgesehen. Als die Sanitäter die Haustür öffneten, sah ich vor mir zwei uniformierte Polizisten und sollte mich für den Rest des Tages fragen, was ich verbrochen hatte. Genau genommen hatten sie nur auf einer Routinestreife den Rettungswagen gesehen und wollten fragen, ob sie helfen konnten.
Das LDW war ja nur 500 m Luftlinie von meiner Wohnung entfernt und selbst wenn der Krankenwagen einen Umweg fahren musste, waren wir in 15 Minuten da. Die Röntgenaufnahme ergab, was ich sowieso schon wusste, das Bein war zweimal gebrochen, einmal davon kompliziert, Eine nette Ärztin kam und erklärte mir, dass sie das Bein weil es ja völlig offen war nicht eingipsen oder mit Platten und Schrauben versorgen konnten. Sie würden es mit einem Fixateur versorgen und dann könnten wir nur hoffen, dass es in den nächsten sechs bis acht Wochen wieder heilte.
Ich war naiv genug zu glauben dass schon alles wieder gut würde und unterschrieb die Einwilligung zur Operation. Ob ich schon etwas gegessen hätte, ich erzählte von der Mozartkugel und sie meinte, das wäre wohl kein Problem. Dann musste ich warten, bis ein Operationssaal und die nötigen Ärzte frei waren. Ich daddelte an meinem Handy mit meiner Lieblings-App und hoffte, dass der Akku reichen würde. Endlich wurde ich in den OP geschoben und wachte zwei Stunden später wieder auf. Mir ging es gut. Die Vollnarkose hatte ich wie alle vorherigen gut überstanden, mir wurde nicht einmal schlecht. Schmerzen hatte ich dank entsprechender Infusionen auch keine. Und ich war überzeugt, dass schon alles wieder gut würde. Wie sollte ich ahnen, dass dies erst der Anfang eines langen schweren Wegs sein würde.
Der Fixateur
Da lag ich dann in meinem Einzelzimmer. Zum Glück brachte meine Mutter mir schnell meinen Laptop, sodass ich mich irgendwie beschäftigen konnte. Zuerst war alles nur langweilig, ich konnte ja nur auf dem Rücken liegen.
Gleich am nächsten Tag erschien aber schon eine Physiotherapeutin mit etwas, was sie als Gehbock bezeichnete, was aber einem römischen Feldherrn auch als Rammbock hätte dienen können. Jetzt sollte ich lernen, mich ohne Hilfe auf die Bettkante zu setzen und dann aufzustehen und auf dem rechten, gesunden rechten Bein zu stehen. Bei all dem durfte ich aber unter gar keinen Umständen auch nur im allermindesten das gebrochene Bein belasten. Ich erklärte sie im Stillen für verrückt, was verlangte sie da von mir? All das war ja schon mit zwei belastbaren Beinen kaum noch möglich gewesen. Aber diese Therapeutin war zumindest noch nett und machte mir Mut, sodass ich in dieser ersten Woche noch Hoffnung hatte.
Am Wochenende wurde ich dann auf eine andere Station verlegt, auf der eine andere Therapeutin zuständig war und die war bis zur Entlassung mein Schreckgespenst. Wenn etwas nicht klappte wie sie es wollte (und das war leider meistens der Fall) behauptete sie, ich wolle ja gar nicht und würde mich nur anstellen.Zum ersten Mal seit ich die erste kleine offene Stelle am Bein bekommen hatte bekam ich Angst bei allem was ich versuchte und das erkannte diese Therapeutin nicht als Grund für Misserfolge. In den 2,5 Monaten dort habe ich es dreimal auf die Bettkante und vielleicht fünfmal in einen sicheren Stand am Rambo dem Rammbock geschafft, aber erst, nachdem sich sowieso schon alles geändert hatte.
Von den Schwestern waren alle kompetent und bis auf eine sehr einfühlsam und nett. Ich war sicher keine leichte Patientin mit den ganzen Kabel für den Computer, das Handy und anderes. Weil ich mich mit dem Fixateur kaum bewegen konnte musste ich viel klingeln, auch wenn ich versuchte, mich zu beherrschen.
In dieser Zeit merkte ich, wie vielen Menschen ich etwas bedeutete. Menschen, denen ich noch nie begegnet war, erkundigten sich immer wieder nach mir. Ich bekam Besuch von einer Bekannten aus meinem Lieblings-Internetforum, von einer Mitarbeiterin des Pflegedienstes, der mich bisher versorgt, von einer Freundin, von der ich schon lange nichts mehr gehört hatte, einer Freundin meiner Mutter, die ich noch aus meiner Kindheit kannte, außerdem unzählige Posts in eben jenem Forum, bei Facebook.
Die allergrößte Hilfe kam natürlich von meiner Familie, die meine Launen ertragen und schon in dieser ersten Zeit, als ich noch sicher war, alles würde schon wieder gut werden, alles für mich unternahm, um mir diese Zeit erträglich zu machen. An erster Stelle steht hier natürlich meine Mutter, die täglich mit praktischen Hilfen und psychologischer Hilfe ins Krankenhaus kam und dafür ihr ganzes Leben umkrempelte. Aber auch meine Schwester, die wie ein Weltmeister Dinge recherchierte, auf die ich nie gekommen wäre und die meine Mutter unterstützte. Nicht zu vergessen aber auch mein Schwager und meine beiden Neffen, die vielleicht meinetwegen zu kurz gekommen sind.
Dr. Edmonds und die Entscheidung
Es waren so viele Ärzte in dieser Zeit um mich herum und ich erinnere mich nur noch an einen Namen, Dr. Edmonds, ein unglaublich einfühlsamer, engagierter Chirurg. Er kam gleich am Anfang fast täglich zu mir und hat mich während des ganzen Krankenhausaufenthaltes begleitet.
Sehr schnell sprach er etwas aus, das für mich damals so unvorstellbar war, dass ich so lange wie irgendwie möglich fest daran glaubte, dass mir das nicht passieren konnte, aber zum Glück wie sich noch herausstellte ließ er nicht locker.
Tatsache war, dass durch das offene Bein lebensgefährliche Keime in mein Bein und durch den Fixateur in den Knochen eindringen und darin solange aufsteigen konnten, bis sie lebenswichtige Organe befallen und dann möglicherweise zum Tod führen konnten. Die einzige Alternative war eine Amputation.
Der Gedanke war unvorstellbar. Eine Gliedmaße aufzugeben, die noch wenige Tage zuvor von mir, wenn auch unter Schwierigkeiten, genutzt werden konnte und das nur auf die bloße Möglichkeit von etwas hin, von dem ich noch nie gehört hatte?
Die Tage vergingen und Dr. Edmonds machte mir zum ersten Mal etwas klar, das ich bis dahin gar nicht für möglich gehalten hatte. Ich war immer davon ausgegangen, dass der Fixateur nach sechs bis acht Wochen entfernt würde und dass ich dann wieder genau so - zugegebenermaßen schlecht aber immerhin - würde laufen können wie vor dem Unfall. Tatsache war aber, dass der Fixateur wohl für immer in meinem Bein würde bleiben müssen was bedeutete, dass ich nie wieder laufen könnte, denn das Bein würde ich nie wieder belasten dürfen und dieses riesige, schwere Gestell konnte ich auch nicht für wenige Schritte hochhalten.
Das heißt, das Bein würde nutzlos, eine Gefahr für Leib und Leben und eine ständige Quelle von Schmerzen, Einschränkungen und Ängsten sein. Ein paar Tage lang habe ich es alleine mit mir und ihm ausgemacht und dann stand mein Entschluss fest. Es ist eine der wenigen Entscheidungen meines Lebens, bei denen ich mich sehr stark von meinem Instinkt habe lassen, so ein bisschen aber auch von der Frage, was würde Lutz jetzt sagen. Ich vermisse ihn heute, 12 Jahre nach seinem Tod, noch jeden Tag, aber in dieser Zeit wohl am allermeisten.
Nachdem die Entscheidung einmal feststand, war ich auf einmal ganz ruhig und mir irgendwie auch sicher, das Richtige zu tun. Nun musste ich das Bevorstehende meiner Familie beibringen und das war sicherlich das Schwerste. Im Gegensatz zu mir sahen sie mich nicht kurz nach der Amputation mit einer Prothese aus dem Krankenhaus spazieren. Heute bin ich froh über meine Naivität.
Dann rief ich Dr. Edmonds zu mir und teilte ihm meine Entscheidung mit. Er bestätigte mir noch einmal, dass ich im Grunde keine Wahl hatte. Wider aller Erwarten ging es dann doch nicht so schnell, wie ich, die ich es gerne hinter mir haben wollte, es gerne gehabt hätte. Mehrere andere Ärzte wurden eingeschaltet, die entweder gar keine oder eine ganz andere Meinung hatten und auf mein "Verdammt noch mal, ich will es aber doch!" nicht wie gewünscht reagierten.
Und dann kam der Abend, als die alleroberste Chirurgin des Krankenhauses zu mir kam und meinte, sie hätten sich jetzt beraten und ob ich damit einverstanden wäre, wenn sie es gleich am nächsten Tag machten. Ich sagte ja.
Irreversibel
Mein Schicksalstag sollte also der 11.10.2025 sein. In den letzten Stunden vor der Amputation hatte ich weder Angst noch war ich verzweifelt oder hoffnungslos. Nachdem ich einmal die Entscheidung getroffen hatte, hatte ich auch für mich entschieden, dass es die einzige Lösung war. Ich habe mich auch nicht von meinem Bein verabschiedet oder den nutzlosen Körperteil mit dem gewaltigen Metallgestell daran noch einmal angesehen. Es war schon kein Teil mehr von mir und so konnte ich mit der Entscheidung leben.
Am Morgen der Amputation musste ich natürlich nüchtern bleiben, aber ich hatte Glück, es gab keine Notfälle und ich kam gleich als erstes in den OP. Schwestern und Ärzte riefen mir noch alles Gute hinterher. Von meiner Familie hatte ich mich natürlich auch ausgiebig verabschiedet und wie bei jeder der wenigen Operationen meines Lebens habe ich keinen Moment daran gezweifelt, dass alles gut gehen würde. Ich wurde für die Operation vorbereitet, bekam die Vollnarkose und weg war ich.
Sie hatten es mir schon vorher gesagt, eine Amputation dauert gar nicht so lange, wie man annehmen würde. Genau weiß ich es gar nicht mehr, aber es waren nur ca. drei Stunden, bis ich im Aufwachraum wieder zu mir kam. Und körperlich ging es mir gut. Natürlich bekam ich per Infusion starke Schmerzmittel, die wirkten. Mir war keinen Moment schlecht von der Narkose, ich hatte sogar Hunger und Durst. Was passiert war lag verborgen unter der Bettdecke und ich war noch zu schwach um sie hochzuheben und nachzusehen. Gewollt hätte ich schon gerne.
Dann wurde ich auf mein Zimmer zurück gebracht und langweilte mich, weil ich nur flach auf dem Rücken liegen durfte. Als erstes rief ich natürlich meine Mutter an und sagte ihr, dass alles gut gegangen war.
Irgendwann kam dann Dr. Edwards mit erschreckenden Nachrichten. Was er bisher nur als Möglichkeit angedeutet hatte war längst geschehen. Eine schwere Infektion war in das offene Bein eingedrungen und über den Knochen aufgestiegen. Die Amputation, die eigentlich noch unterhalb oder nur knapp oberhalb des Knies geplant gewesen war hatte bei ca. 1/3 des Oberschenkels durchgeführt werden müssen. Die Ärzte hatten sogar in Betracht gezogen, das Bein komplett mit einem Stück vom Becken zu entfernen, weil die akute Gefahr bestand, dass die Infektion auf lebenswichtige Organe übergriff und ich sogar starb.
Inzwischen weiß ich, dass sie sich glücklicherweise dagegen entschieden hatten. Die Infektion ist nicht mehr im Körper nachweisbar. Was bisher noch niemand weiß ist, ob der Knochen im Stumpf noch stark genug ist, um eine Prothese zu tragen. Die Ärzte haben sich lange mit der Verschreibung einer Prothese Zeit gelassen. Jetzt, fünf Monate nach der Amputation, liegt die Genehmigung der Kostenübernahme bei der Krankenkasse. Dass ich eine bekomme steht außer Frage, es kommt nur darauf an, wie lange sie sich Zeit lassen.
Vom Moment der Entscheidung war ich fest entschlossen, wieder laufen zu können und alles dafür zu tun. Davon bin ich auch nie abgekommen, auch wenn ich mich vorerst mit dem Leben im Rollstuhl arrangiert habe und täglich Fortschritte mache.
Der lange Weg aus dem Krankenhaus
Viel Zeit zum Überlegen blieb mir in den nächsten Wochen nicht. Da ich ja alles gut überstanden hatte, wurde von Anfang an viel von mir verlangt. So musste ich mich zum Waschen und Bett beziehen so selbständig wie möglich im Bett drehen. Und ja, wenn die fünf Drainageschläuche, die im Stumpf steckten, dabei ins Bein stachen, tat es weh. Anstrengend war es auch. Aber so habe ich tatsächlich sehr schnell gemerkt, dass vieles immer noch ging, einiges sogar besser als vor der Amputation.
Eine ganz andere Sache war die Physiotherapie. Ich habe ja weiter oben schon von der strengen Therapeutin geschrieben, die mich mit Rambo dem extra stabilen Gehbock quälte. Nun sollte ich gleich ab dem zweiten Tag nach der Operation auf der Bettkante sitzen, mich wieder nur wenige Tage später dabei selbst waschen (sodass ich mich beim Sitzen nicht festhalten konnte, wie ich glaubte, es zu brauchen), mich dann selbst in den Sitz hocharbeiten und schließlich sogar mir Rambos kleinem Bruder, einem ganz normalen Gehbock, der so aussah, als könnte man ihn mit einer Feder umwerfen, stehen.
Das eigentliche Problem war, dass mich die Therapeutin nicht nach meinem eigenen Weg suchen ließ, sondern darauf bestand, dass ich es auf ihre Weise machte. So kämpfte ich wochenlang vergeblich, mich auf der Seite mit dem Stumpf zumindest selbst zu Sitzen hochzuziehen, geschweige denn auf die Bettkante zu kommen. Als ich es dann auf der Seite mit dem gesunden Bein versuchte, klappte es im ersten Anlauf. Mich mithilfe des Gehbocks auf mein rechtes Bein zu stellen habe ich bis zum Schluss nicht geschafft. Ich hatte und habe auch jetzt nicht die Kraft darin, das Knie im Stehen durchzudrücken. Also stand die Drohung im Raum, dass ich keinen Rollstuhl bekommen würde, solange ich nicht selbst vom Bett dort hinein käme und dafür müsste ich eben stehen können. Und ohne Rollstuhl könnte ich nicht entlassen werden.
Da war es, das magische Wort Entlassung - ebenso ein Hoffnungsschimmer wie ein Schreckgespenst. Was sollte werden? Eines war klar, in meine bisherige Wohnung konnte ich nicht zurück. Ohne Fahrstuhl im ersten Stock konnte ich sie weder verlassen noch erreichen. Das Badezimmer war in einem Rollstuhl nicht nutzbar und ich würde jetzt sehr sehr viel Hilfe benötigen. Der Traum von einer eigenen behindertengerechten Wohnung und einem Pflegedienst war und ist weiterhin unerfüllbar. Die einzig mögliche Lösung war ein Pflegeheim.
Die Sozialarbeiterin im Krankenhaus bemühte sich jetzt etwas mehr als bisher, einen solchen Platz zu finden, aber ohne nennenswerten Erfolg. Aber es war ja nicht nur die Suche nach einem Heimplatz. Unzählige Anträge mussten gestellt und Behörden aufgesucht, die Wohnung gekündigt und die Auflösung vorbereitet werden. Meine Mutter und meine Schwester leisteten schier übermenschliches um Dinge zu erledigen, die ich selbst nicht leisten konnte, weil ich einfach nicht die nötigen Orte aufsuchen konnte. Das Wenigste ließ sich telefonisch oder per E-Mail klären.
In all diese Vorgänge platzte eine Nachricht, mit der ich nie gerechnet hätte. Wenige Wochen vor meinem zehnjährigen Firmenjubiläum schickte mir mein Arbeitgeber die Kündigung, weil nicht absehbar war, ob und wann ich wieder würde arbeiten können. Zu dem Zeitpunkt war ich bereits im Krankengeld und kostete die Firma nichts. Es hätte mir einfach ein bisschen Selbstwertgefühl gerettet, wenn ich meinen Arbeitsplatz noch in der Hinterhand behalten hätte, ein weiterer Punkt, auf den ich hätte hinarbeiten können. Aber es sollte nicht sein. Leider sind solche Kündigungen aus gesundheitlichen Gründen inzwischen rechtens.
Mein erster Impuls war es, zu kämpfen. Wenigstens eine Abfindung sollten sie zahlen. In meinem Lieblingsforum bekam ich hier viel Unterstützung und Zuspruch. Ich ließ mich juristisch beraten und auch der Anwalt riet mir zu. Allerdings würde ich ihn selbst zahlen müssen, egal wie die Sache ausging. Entweder hätte ich es aus der Abfindung gezahlt oder - nun ja, es gab keine Alternative. Am Ende beschloss ich auch meiner Mutter zuliebe nicht zu klagen. Alleine hätte ich es nicht durchgestanden. Also akzeptierte ich die Kündigung zu 28.02.2025.
Und dann ging auf einmal alles ganz schnell. Nachdem ich schon in ein Dreibettzimmer umgezogen war, weil mein Luxus-Einzelzimmer für jemand anderen gebraucht wurde, erfuhr ich de Entlassungstermin eine Woche im Voraus. Aber wohin? Unerwartet hatte die Sozialarbeiterin dann Die zwei Heimplätze zur Auswahl. Ich hatte schon einen Besichtigungstermin beim ersten Heim ausgemacht, als der zweite Vorschlag kam.
Im zweiten Heim war nur ein Platz in einem Doppelzimmer frei, etwas, das ich mir eigentlich gar nicht vorstellen konnte. Aber die Homepage des Heims sagte mir von Anfang an mehr zu. Selbst konnte ich es mir ja nicht vorher ansehen, Beim Besichtigungstermin erfuhr meine Mutter dann, dass eine Bewohnerin gestorben war und ich auch ihr Einzelzimmer haben konnte. So stand die Entscheidung dann ohne eine Besichtigung des anderen Heims fest und wir schlossen den Vertrag ab.
Das neue Zuhause
Dieses Datum habe ich mir seltsamerweise nicht gemerkt. Bis auf das Nötigste hatte meine Mutter alles, was sich im Lauf der Wochen angesammelt hatte, schon mitgenommen. Plötzlich war der Krankentransport da. Ich wurde auf eine Trage gezogen und dann ging es los. Von einem Rollstuhl oder dem Umsetzen in diesen war übrigens keine Rede mehr.
Die Fenster des Krankenwagens waren abgeklebt, sodass ich auf der Fahrt nichts von der Welt da draußen sah. Den Namen des Stadtteils, in dem ich jetzt wohnen würde, kannte ich vom Hörensagen, ich hatte aber nie eine Beziehung dazu. Und ich konnte nicht einmal einen letzten Blick auf die Gegend werfen, in der ich 17 Jahre gewohnt hatte.
Die Fahrt ging schnell. Die Sanitäter zogen mich aus dem Fahrzeug und ich konnte einen ersten Blick auf mein neues Zuhause werfen - ein hohes Gebäude aus roten Klinkersteinen mit vielen Fenstern. Und schon war ich im Gebäude. Aus zwei Büros guckten Mitarbeiterinnen und begrüßten mich und dann ging es mit dem Fahrstuhl in die Höhe. Auf dem kurzen Weg über den Flur in mein Zimmer gleich gegenüber vom Fahrstuhl erhaschte ich einen kurzen Blick auf ein Personen, die dort saßen und auf ein Schild mit meinem Namen neben meiner Zimmertür. Ich war angekommen.
Ein Bett, ein Kleiderschrank, eine Kommode mit einem Fernseher darauf, ein Tisch und zwei Stühle. Die Tür zum Badezimmer war zu. Ich wurde in mein Bett verfrachtet, bekam eine Klingel wie im Krankenhaus in die eine und eine Fernbedienung zum Einstellen des Bettes in die andere Hand gedrückt. Die Schwestern gefielen mir von Anfang an. Zaghaft fragte ich, ob mir noch jemand erklären würde, was jetzt von mir erwartet wurde und das wurde mir natürlich zugesichert. Ich war in meinem neuen Leben angekommen.
Heute und morgen
Die letzten Abschnitte habe ich am 15.03.2025 geschrieben, also auf den Tag genau sechs Monate nach dem Unglück und vier Monate nachdem ich ins Pflegeheim gezogen bin. Vieles ist inzwischen passiert, schönes und weniger schönes, aber am Ende hat mich alles voran gebracht. Wenn auch nicht so schnell, wie ich es gerne hätte.
Aus dem Raum mit fremden Möbeln ist ein Zuhause geworden, das ich mit wenigen Erinnerungsstücken aus meinem bisherigen Leben dazu gemacht habe. Alles konnte ich nicht behalten, es wäre Wahnsinn gewesen, die Möbel auf unabsehbare Zeit einzulagern, nur in der vagen Hoffnung, dass ich sie irgendwann in vermutlich sehr ferner Zukunft doch noch einmal nutzen kann. An Wandschmuck ist nur ein kleines Bild mitgekommen, das ich vor vielen Jahren von meinen längst verstorbenen Großeltern bekommen habe. Es war eine reine Gefühlsentscheidung, keines der Poster und anderen Dekorationen zu behalten, sie hätten mich nur immer an das Vergangene erinnert.
Meine Wellensittiche leben jetzt bei meiner Mutter. Das Heim würde sie erlauben, aber ich könnte sie hier nicht artgerecht halten. Jederzeit kann jemand die Tür aufreißen und wenn sie dann in den Flur hinaus fliegen, kann ich sie unmöglich wieder einfangen. Sie für den Rest ihres Lebens einzusperren wäre Quälerei. Und bei meiner Mutter haben sie es gut und vielleicht kann ich ja irgendwann mal wieder zu ihr und sie wiedersehen.
Nicht lange nach meinem Einzug bekam ich meinen Rollstuhl. Hier hat niemand mehr gedrängt, dass ich es alleine hinein schaffe. Im Heim gibt es einen Lifter, mit dem ich umgesetzt werde und inzwischen schaffe ich es auch alleine mit einem Rutschbrett. Mit noch etwas mehr Übung werde ich es bald auch ohne Aufsicht zur Sicherheit alleine. Mal sehen, was eher passiert, dass ich es schaffe oder dass meine beantragte Prothese kommt, damit ich wenigstens endlich weiß, ob der stark geschädigte Knochen des Stumpfes es erlaubt, sie zu nutzen. Ich hoffe es so sehr.
Am positivsten hat sich mein Sozialleben verbessert. Nachdem ich wegen der offenen Beine lange nur noch im äußersten Notfall meine Wohnung verlassen habe und außer zu meiner Mutter, meiner Schwester und ihrer Familie und dem Pflegedienst eigentlich keine Menschen mehr im echten Leben (und nicht nur im Internet) getroffen habe, habe ich hier angefangen, Freundschaften zu schließen, mich ein bisschen mit um die vielen dementen Menschen hier auf der Station zu kümmern und mit den Pflegekräften Smalltalk zu halten und mich vielleicht sogar ein bisschen zu verlieben.
Mein nächstes Ziel ist es, die Prothese nutzen zu lernen und natürlich weiß ich, dass das noch ein langer, harter Weg wird. Ich möchte wieder mobil genug werden, um in ein Auto zu steigen und zum Beispiel zu meiner Mutter zu fahren oder zu einer Lesung zu meinen Ehren, die im Mai statt finden wird - Margit & Friends. Vielleicht wird irgendwann sogar mal ein Urlaub möglich sein oder auch nur ein Tagesausflug an die Nordsee, die ich so gerne noch einmal sehen würde. Und ganz vielleicht kann ich ja tatsächlich irgendwann in eine Art Betreutes Wohnen ziehen und noch mal wieder arbeiten.
Im Moment bin ich noch in einer mobilen Reha, auf die ich so lange warten musste und die jetzt schon so viel gebracht hat. Ich bin bereit alles zu tun, um meine Ziele zu erreichen.