Ausflug in den Keller


„Frau Mümmelmann, sitzen bleiben! Sie wollen doch nicht schon wieder hinfallen!“


Elfriede Mümmelmann seufzte genervt. Einmal in 88 Jahren war sie gestolpert und hatte sich den Knöchel verstaucht und schon behandelte man sie im Seniorenstift wie eine echte Seniorin. Sie wollte doch nur mal eben zur Bank um die Ecke, ein bisschen den Bankangestellte Surbier ärgern und bei der Gelegenheit das Geld für ihr Abo des Krimi-Magazins überweisen. Aber für solche Nebensächlichkeiten hatte man hier ja kein Verständnis.


„So Frau Mümmelmann, jetzt gehen wir mal fein zum Gedächtnistraining.“


Elfriede konnte sich gerade noch beherrschen nicht zu sagen, dass ihr Gedächtnis noch hervorragend funktionierte. So erinnerte sie sich noch genau daran, wie sie Schwester Petra zehn Minuten zuvor schon erklärt hatte, dass diese ja gerne selbst zum Gedächtnistraining gehen könne, aber doch bitte nicht mit ihr. Jetzt hatte die Petra mit ihrem Mitbewohner Herrn Groß zu tun und wandte ihr den Rücken zu. Eilig nutzte Elfriede die Gelegenheit, aus dem Gemeinschaftsraum zu türmen.


Doch wohin nun? In ihrem Zimmer würde Schwester Petra sie als erstes suchen. Dummerweise hatte Elfriede auch keine Jacke dabei und draußen schneite es. Sie seufzte. Die Zeiten, in denen ihr auch im tiefsten Winter zur Not ein Pullover gereicht hatte waren leider vorbei. Hastig stieg sie in den Fahrstuhl, um erst einmal außer Sichtweite der Schwester zu kommen.


Es dauerte einen Moment bis sie es bemerkte, Irgendjemand hatte vergessen, den Schlüssel abzuziehen, ohne den man nicht in die Hauswirtschaftsräume im Keller fahren konnte. Elfriede freute sich, der langweilige Nachmittag schien doch noch interessant zu werden. Mit zufriedenem Grinsen drehte sie den Schlüssel um und drückte die Taste für das entsprechende Stockwerk.


Am Ziel angekommen nahm sie erst einmal den Schlüsselbund an sich und machte sich auf Entdeckungsreise. In ihrer aktiven Zeit hatte sie zur Vorbereitung ihrer Coups genügend Baupläne studiert, um das Kellergewölbe entsprechend würdigen zu können. Vom Flur mit der Fahrstuhltür gingen drei Seitenarme ab, an denen sich wiederum mehrere Türen befanden. Einige waren beschriftet, andere nicht.


Den Pausenraum und das WC für die Mitarbeiter ließ sie als uninteressant links liegen. Um diese Zeit würde sich dort kaum jemand aufhalten, den sie hätte belauschen können. Der Gang zum Küchentrakt und zur Wäscherei war schon gefährlicher, dort waren mit Sicherheit noch Leute und wenn man sie einmal hier unten erwischte, würde man sie bestimmt so schnell nicht mehr aus den Augen lassen, dann war es selbst mit den Ausflügen zu Herrn Surbier vorbei.


Doch wohin mochte der dritte Gang führen? Im Gegensatz zu den anderen beiden Fluren und dem kleinen Vorraum vor dem Fahrstuhl war dieser nicht beleuchtet und die Zeiten, als sie für den Fall der Fälle immer eine Taschenlampe in der Handtasche gehabt hatte, waren seit ihrem letzten Gefängnisaufenthalt vorbei.


Aber was niemand ahnte, seit Elfriede vor zwei Jahren am Grauen Star operiert worden war konnte sie wieder sehen wie ein Luchs. Kurzentschlossen tastete sich Elfriede ins dunkle Unbekannte. Der Gehstock, den sie wegen ihres verstauchten Knöchels immer noch nutzte, tat ein übriges.


Der Flur war lang und der Boden uneben, aber Elfriede war noch gut zu Fuß. Ihre Senioren-Armbanduhr mit extragroßer beleuchteter Digitalanzeige verriet ihr, dass das Gedächtnistraining nun vorbei war. Spätestens jetzt würde Schwester Petra ein Licht aufgehen, dass sie nicht nur dorthin gegangen war. Sie musste sich beeilen.


Schließlich machte der Flur einen scharfen Bogen und auf einmal wurde es hell. Elfriede blinzelte überrascht. Vor sich sah sie einen Mann am Boden hocken, der offenbar mit einem Schneidbrenner eine Metallwand bearbeitete.


Sie an dachte Elfriede, ein moderner Kollege. Der Tag wurde ja immer besser.


„Guten Tag! Was haben Sie denn vor? Wollen sie vielleicht irgendwo einbrechen?“


Der Mann fuhr wie von der Tarantel gestochen herum. Auf dem Kopf hatte er zum Schutz seines Gesichtes einen Helm, sodass sie ihn nicht erkennen konnte, er trug aber die Uniform eines Mitarbeiters des Seniorenstiftes.


„Wissen Sie, ich freue mich immer, wenn ich einen Kollegen treffe, auch wenn ich schon seit 30 Jahren keine Bank mehr ausgeraubt habe.“


„Halt die Klappe Alte! Du störst.“


„Wenn ich Sie wäre würde ich bei Schwester Petra Nachhilfe im korrekten Umgangston mit den Bewohnern nehmen, so fliegen sie doch sofort auf. Und wenn Sie Ihren Job los sind, ist es aus mit dem bequemen Zugang zur Rückwand des Banktresors.“


Elfriede trat näher und warf einen anerkennenden Blick auf den Schneidbrenner und das noch recht kleine Loch, das der Unbekannte bisher damit geschaffen hatte.


„Ich schätze, wenn Sie so weitermachen, ist der Durchgang in zwei Wochen groß genug, damit Sie durchschlüpfen können. Ganz ehrlich? Ich habe zu meinen besten Zeiten ja auch mal mit dem Gedanken gespielt, es auf diesem Weg zu versuchen, aber damals habe ich keinen so schönen Zugang gefunden, wie Sie ihn hier haben.“


„Klappe habe ich gesagt, Alte. Siehst du nicht, dass du störst?“


„Nicht so unfreundlich junger Mann. Ich wollte doch nur mal sehen, wie man heutzutage in meinem Beruf arbeitet. Keine Angst, alt bin ich wirklich. Ihre Idee werde ich nicht klauen. Ich habe keine Lust, meine letzten Tage noch mal im Knast zu verbringen. Da bleibe ich lieber in der Gefangenschaft von Schwester Petra.“


Elfriede wandte sich zum Gehen.


„Ach übrigens, selbst wenn ich Sie unter Ihrem Helm erkennen könnte, ich verpfeife Sie nicht. Ein Polizeispitzel bin ich nie gewesen. Es wäre nur nett, wenn Sie im Gegenzug niemandem verraten würden, wo ich heute Nachmittag war.“


Mit ihrer Ansprache zufrieden tastete sich Elfriede zurück zum Fahrstuhl. Wenn sie Glück hatte würde Schwester Petra ihr glauben, dass sie nur im Andachtsraum des Seniorenstiftes gewesen war um für die Vergebung ihrer beruflichen Sünden zu beten. Und im Stillen wünschte sie dem unbekannten Bankräuber viel Erfolg. Und am Abend gab es endlich mal wieder eine alte Derrick Folge.